Tanzendes Urbild - Labyrinth
Von Agnes Barmettler
Überliefert unter vielen Namen, Formen und Geschichten, durch Zeitalter hindurch gebraucht und wieder verlassen, neu aufgegriffen zu Zeiten von Wirrnis und Schrecken, ein Orientierungsmodell, das Labyrinth.
Niemand weiss, woher es kommt, wer es erfand, wo und wann es entstand, das Zeichen mit dem verschlungenen Weg. Funde gibt es fast auf der ganzen Erde, das Labyrinth gehört zum Kulturgut unterschiedlicher Völker. Sie haben das Zeichen eingeritzt in Felsen und Höhlen, bei ihren Grabstätten, geprägt in Münzen und Schmuck, geflochten und gewoben. Als begehbare Bilder sind sie verstreut an den Küsten. Mythen, Spiele, Tänze, Ortsnamen erinnern daran. Relativ spät, wie alles, erscheint es auch in Büchern, an Überlieferungen mangelt es nicht, das Haus der Spinne ist bekannt, Ariadne mit dem Faden.
In vielen Kulturen steht das Labyrinth in unmittelbarem Zusammenhang zu Geburt, Tod, Initiation, Wiedergeburt … Tapuat, die Wiege, so nennen es die Hopi, “ein Schöpfungsplan, der heilige Ort, woher wir kommen und wohin wir gehen, zurückkehren”, das Geheimnis der Lebenskraft, einer Kraft, die sich erneuert im Wechsel von Werden und Vergehen. Ein Bild für die Erde, für die Frau, ein Zeichen des Wandels, ein Faden, der nirgends unterbrochen ist, der Labyrinthweg. Wie der Mond und die Gezeiten in ihrem Wandel steht auch das Labyrinth als Bild für die Gesetzmässigkeiten der Lebenskräfte, Verwandlung. Erneuerung. Der Name Jungfrauentanz lässt an ähnliche Zusammenhänge denken. Aus dem Tanzplatz wird ein Kampfplatz. Der Ort des Schutzes und der Kraft wird zur Burg, die Burg zur Festung, schliesslich zum Gefängnis, zur Falle, zum Ort ohne Ausweg, zum Irrgang.
Aus dem Plan für den Weltenlauf und für die Gesetze des Lebens werden beliebig einzelne Teile herausgelöst und stehen einseitig herausgegriffen ohne Beziehung zum Ganzen. In verschiedenen Deutungsversuchen steht jetzt das Labyrinth für alles Mögliche: Weg der Prüfung, der Gang durch die Hölle, durch die Laster und Lüste, ein Pilgerweg, ein listenreicher Heldenpfad, es wird Bild für die Ausweglosigkeit aus den Schlingen des Schicksals, schliesslich eine Metapher für alles Unübersichtliche, für Verwirrung und Chaos. Die christliche Deutung lehnt sich an den griechischen Mythos an, denn auch hier bringt das blutige Opfer Erlösung, den Ausweg.
So verschieden die Deutungen auch ausfallen, sie haben etwas gemeinsam, das Labyrinth ein Zeichen der Umwandlung der Veränderung, ein Zeichen der Wende. Jeder Wandel vollzieht sich erst mit dem Verlassen von Vertrautem, mit der Zuwendung zum Unbekannten. Risiko und Chance halten sich die Waage. Veränderung ist ein Wagnis, und sie irritiert, wie das Labyrinth mit seiner widersprüchlichen Weisheit verunsichert. Die paradoxen Wahrheiten des Lebens sind ambivalent. Sie verlangen Auseinandersetzung und Unterscheidung. Unterscheiden aber schafft Klarheit, nicht Verwirrung. Im Labyrinth sind diese paradoxen Wahrheiten sinnlich erfahrbar, fassbarer als es das Nacheinander von Worten sagen kann, denn im Gehen sehend verstehen, das Ganze wahrnehmen, sich erleben in Raum und Zeit, in Schwingung und in Ruhe, im Gleichgewicht zwischen Körper und Geist, das ist so komplex wie ein- und ausatmen und so einfach zugleich. An jeder Zeitwende ruft das Labyrinth sich in Erinnerung als wollte es sich anbieten zur Neuorientierung, zur Besinnung auf uralte Gesetze des Lebens, ein Zeichen der Vielfalt und der Begrenzung.
Quelle: Labyrinth, Künstlerinnen auf dem Hanseatenhof, Bremen 1992